Mein Arzt sagt: „Sie sind ein Phänomen!“
Wie sind Sie zum Verein gekommen?
„Ich bin in einem Alter, in dem alle meine Freunde weg sind. Ich bin die Letzte.
Ich glaube das hat der Herr S (Sozialarbeiter) eingefädelt. Ich wohne in Köln Bocklemünd, da sagte eine Bekannte „komm doch mal mit“ und da habe ich die Koordinatorin von Freunde alter Menschen kennengelernt. Wissen Sie, ich bin ein kontaktfreudiger Mensch, ich gehe auf Menschen zu. Wenn nichts kommt, kommt eben nichts. Aber meistens ja doch.“
Können Sie noch alleine aus der Wohnung raus gehen?
„Wissen Sie, das war so: bis ich 95 war bin ich noch alleine in die Stadt, da hatte ich so Kreise, über die Kirche.
Da hatte ich eine Bekannte, die viel jünger war, sehr einsam, ich hatte kein gutes Gefühl aber sie hat mich überredet, dass wir zusammen zu einem Flohmarkt fahren. Sie konnte eigentlich noch recht gut Auto fahren. Dann kamen wir da an und es war ein riesiger Flohmarkt, so ein richtig breiter Hund. Ich war damals noch ohne Stock und habe mich untergehakt. Dann sagte ich: „Das wird mir jetzt zu weit, das schaffe ich nicht mehr.“ Sie soll doch bitte das Auto holen. Dann wollte sie erst noch eine rauchen und ich stand da so alleine, hatte die Sonnenbrille auf, es blendete und ich bin über eine Bordsteinkante gestolpert. Mit der Hüfte genau auf die Kante. Da halfen mir zwei Herren auf aber ich merkte schon, als ich den Fuß hinsetzen wollte, das Bein war so wackelig. Ich war ja im Krieg Krankenschwester, ich wusste, da stimmt was nicht.
Als ich im Krankenhaus war hat mich ein sehr netter Arzt, ein Iraner, versorgt. Er wollte mich ins MRT schieben. Da habe ich gesagt, das mache ich nicht, in den MRT kriegen Sie mich nicht. Höchstens verkehrt herum, mit den Beinen voraus, es war ja die Hüfte. Wissen Sie, ich habe Platzangst. Das kommt vom Krieg, vom Luftschutzkeller, ich war auch halb verschüttet und so weiter.
Na ja, wie ich mir schon dachte, es war ein Oberschenkelhalsbruch. Ich wurde operiert. Die Sozialarbeiterin hatte aber einen Rehaplatz für mich, das war fantastisch. vier Wochen lang musste ich jeden Tag ran. Da war es wieder gut.“
Sie waren ja früher auch professionelle Eiskunstläuferin, meinen Sie, dass das auch geholfen hat, dass Sie sportlich sind? Oder war der Spitzensport eher schädlich für die Gelenke?
„Na das hat bestimmt geholfen. Ich habe damals ja auch kaum Sprünge und so was gemacht. Das war ja eher wie Gesellschaftstanz auf dem Eis. Nach der Reha kam dann gleich jemand vorbei und half mir zu Hause. Zum Glück hatte ich eine Unfallversicherung, das war Gold wert. Ich mache sehr viel Physiotherapie.
Um auf Ihre Frage zurückzukommen: raus gehe ich schon noch – aber mit dem Rollator.“
Haben Sie denn einen Lift im Haus?
„Ja, einen Aufzug und Treppen. Das mache ich so: ich fahre mit dem Lift in den Keller, dann nehme ich das Ding (Rollator) auf den Rücken und steige die acht Stufen wieder hoch. Rauf geht, runter wäre zu gefährlich, da zieht mich das Ding nach unten.“
Ich finde es unglaublich, wie Sie Ihren Alltag meistern, Chapeau!
„Ja mein Hausarzt sagt immer „Sie sind ein Phänomen!“
Aber im Ernst: Ich glaube an den Herrn. Das gibt mir Halt.
Ich bin so dankbar. Mit 40 habe ich meinen Sohn bekommen. Das ist doch ein Glück. Er kümmert sich ganz lieb um mich, er geht einkaufen und macht alles.“
Sie haben im November Geburtstag, wie wünschen Sie sich den Tag zu verbringen?
„Ja! Am 25 November werde ich 99. Nächstes Jahr werde ich 100.(lacht) Je nachdem was Corona zulässt mache ich um elf Uhr einen kleinen Empfang, drei oder vier Gäste. Mein Sohn, meine Besuchspartner. Mein Mann ist ja leider nicht mehr da. zehn Jahre hat er noch gelebt, mit der Krebsdiagnose. Der Arzt hat im noch fünf Jahre gegeben. Wir haben im Luxus gelebt, wir haben Kuren im Allgäu gemacht, das hat ja nicht die Kasse bezahlt. So habe ich meine privat angelegte Altersvorsorge verprasst. Jetzt habe ich kaum noch Geld, aber wir haben zehn Jahre rausgeholt!
Ich war selbstständige Schneiderin, ich hatte einen sehr exquisiten Kundenkreis. Als mein Mann starb war ich 70. Da habe ich wieder angefangen zu arbeiten, habe mir eine Steuernummer geholt und bis 85 weiter gearbeitet.“
Wie viele Besuchspartnerschaften haben Sie im Verein?
„Ich habe Simon, Charlotte und Alina, alles sehr liebe Menschen. Luisa geht ja leider zurück nach Australien. Sie wird von ihrer Familie abgeholt, dann kommen die alle zu mir zu Besuch. Luisas Mutter möchte mich kennenlernen.“
Wie oft sehen Sie ihre Besuchspartner?
„Ich treffe die so nach Bedarf. Je Nachdem wie sie Zeit haben, die arbeiten ja auch alle, sehr liebe Menschen.“
Sie haben den Krieg erwähnt. Wie geht es Ihnen heute mit dem Krieg in der Ukraine? Als junger Mensch kann man sich kaum vorstellen, wie es ist, im Krieg zu leben.
„Die jungen Leute sind heute so verwöhnt. Wir haben gehungert, gefroren und gearbeitet. Das kann man sich nicht vorstellen. Ich musste morgens um sieben meinen Dienst im Lazarett antreten. Die Schicht ging bis 22 Uhr. Dann nach Hause, zwei Stunden auf dem Sofa geschlafen und dann ging der Alarm los. Ab in den Luftschutzkeller. Aber ich musste ja morgens um sieben wieder arbeiten. Ich habe kaum geschlafen. Mit dem Hunger war es nach dem Krieg noch schlimmer. Die vom Land kamen, die hatten alle was zu essen. Ich musste zur Fachschule, habe vier Semester Modedesign gelernt. Danach habe ich meinen Meister gemacht.
Da bin ich morgens mit zwei Scheiben Maisbrot mit etwas Zucker drauf los und das musste für den ganzen Tag reichen. Aber da gab es diesen Bäckersohn vom Land, der war in der Theaterklasse, für Bühnengestaltung, der konnte nicht so gut zeichnen. Da habe ich gesagt: „Wenn Du mir zwei Graubrote mitbringst, zeichne ich Dir zehn Figurinen.“ So haben wir getauscht, so kam man irgendwie durch.“
Was vermissen Sie heute in Ihrem Alltag?
„Dass ich nicht mehr lesen kann. Ich habe eine Hornhautverkrümmung. Irgendeinen Preis fordert das Alter eben.“
Wären Hörbücher ein Ersatz fürs Lesen?
„Nein, nicht so richtig. Da werde ich so müde – mit diesen monotonen Erzählerstimmen, da schlafe ich ein. Ich kann nämlich sehr gut schlafen.“
Auch nachts?
„Ja, ich kann immer schlafen. Das ist mein Rezept. Wenn ich mal trüber Stimmung bin oder so ein Tag ist, an dem einfach nichts läuft, dann lege ich mich aufs Sofa, rolle mich zusammen und schlafe. Aber ich bin noch quicklebendig. Die Balance ist nicht mehr so da, da muss ich aufpassen, das Gleichgewicht. Aber für ein Altersheim bin ich nicht so der Typ, das sagt auch mein Sohn. Da gehe ich nicht rein.“
Maria, was Sie mir jetzt schon alles erzählt haben, das wäre Stoff für ein ganzes Buch! Haben Sie schon einmal daran gedacht, Ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben?
„Ja (lacht), mein Sohn meint das auch. Er hat mir einen Block gekauft, ich soll das alles aufschreiben sagt er. Aber das geht nicht, da verkrampft meine Hand.“
Es macht jedenfalls richtig Freude, Ihnen zuhören, Sie erzählen so lebendig.
„Das ist schön, ich erzähle gerne aus meinem Leben, ich kann alles in Bildern, wie in einem Film, nochmal sehen wenn mir jemand zuhört.“